INTERVIEW
ERSCHÖPFUNG UND ENERGIEMANGEL: WEGE ZUR INNEREN ERNEUERUNG
Erschöpfung und Energiemangel – zunehmend weit verbreitete Leiden, die dazu führen, dass viele Menschen nach Möglichkeiten jenseits der klassischen Schulmedizin suchen, um Körper und Seele durch eine ganzheitlichere Herangehensweise wieder gesunden zu lassen. Dabei ist es auch wichtig zu verstehen, welche Ursachen diesen Symptomen zugrunde liegen können, um effektive Lösungen zu finden.
Prof. Dr. Michalsen und Dr. med. Rainer Matejka beleuchten in diesem Interview, basierend auf aktuellen Studien und langjähriger klinischer Erfahrung, die Vielschichtigkeit der Gründe für Müdigkeit und Erschöpfung. Sie diskutieren die Bedeutung von Schlafstörungen, Vitalstoffdefiziten, psychosomatischen Aspekten und bieten einen Einblick in innovative medizinische Ansätze, die über die Methoden der Schulmedizin hinausgehen.
PROF. DR. ANDREAS MICHALSEN
Professor für Klinische Naturheilkunde der Charité Berlin und Chefarzt der Abteilung Innere Medizin und Naturheilkunde am Immanuel Krankenhaus Berlin-Wannsee.
Weitere Informationen zu Herrn Prof. Dr. Michalsen finden Sie am Ende des Interviews.
DR. MED. RAINER MATEJKA
Fastenarzt, Facharzt für Allgemeinmedizin, Naturheilverfahren und biologische Medizin. Von 2016 bis 2024 Chefarzt der Malteser Klinik von Weckbecker in Bad Brückenau.
Weitere Informationen zu Herrn Dr. Matejka finden Sie am Ende des Interviews.
Erschöpfung und Energiemangel scheinen ein weit verbreitetes Leiden zu sein. Viele Menschen sehnen sich nach einem "Reset" für Körper und Seele. Was sind die Ursachen und hilft diese Ursachenforschung beim Finden von Lösungen?
DR. MED. RAINER MATEJKA:
Eine Studie der Universität Marburg aus dem Jahr 2015 und einige ähnlich gelagerte Studien zeigen: Bei den meisten Menschen steckt hinter Erschöpfung und Energiemangel selten eine bislang unentdeckte schwere Erkrankung. In bis zu 20% der Fälle spielen jedoch Schlafstörungen und depressive Verstimmungen eine bedeutende Rolle, in einem geringen Prozentsatz auch Blutarmut, etwa durch Eisenmangel und in nur 0,6% der Fälle bis lang nicht entdeckte Tumorerkrankungen. Eine große Palette bleibt nicht geklärt und lässt sich auch durch einen Verweis auf psychosomatische Ursachen oft nicht befriedigend therapieren.
Diese Konstellation zeigt ein Dilemma der modernen Medizin. Immer dann, wenn eine strukturelle Organerkrankung nicht nachgewiesen werden kann, wird das Eis „sehr dünn“ und die Therapieempfehlungen oft wenig substanziell. Der Patient hört dann mitunter, er müsse mit seiner Beschwerdesymptomatik leben oder er solle einmal an sein Alter denken.
Tatsächlich sollte man zuerst an die naheliegenden Dinge denken: Dazu gehört beispielsweise die Optimierung der Schlafqualität und Ausgleich eines bestehenden Vitalstoffmangels. Insbesondere bei Frauen vor den Wechseljahren an Eisenmangel denken, ferner an B12 Mangel. Auch die im Volksmund oft gebrauchte Bezeichnung einer „Übersäuerung“ des Organismus kann durchaus eine Ursache sein. Darunter würden wir eine Überlastung des Organismus mit Stoffwechselendprodukten durch Überernährung und Bewegungsmangel sehen. Auch ein ungenügendes Stressmanagement spielt eine große Rolle – kurzum, die modernen, oft von Hektik geprägten Lebensgewohnheiten.
PROF. DR. ANDREAS MICHALSEN:
Es ist erstaunlich welch großen Anteil in unserer medizinischen Versorgung inzwischen die Erschöpfungssyndrome ausmachen. Zugrunde liegen meist komplexe Konstellationen. Es spielen sowohl soziale Faktoren, Überlastungen, eine vermutlich immer stärkere Beschleunigung unseres Alltags, sicherlich aber auch – wie von Dr. Matejka erwähnt – Fehlernährung, Bewegungsmangel und vor allem Schlafstörungen eine bedeutende Rolle. Hinzu kommen spezifische Ursachen wie aktuell Long-Covid-Syndrome. Es ist in meiner Erfahrung entscheidend, die richtige Balance zwischen Ursachenforschung und pragmatischen Vorgehen zu nehmen. Eine übertriebene Diagnostik mit umfangreichsten Laboranalysen und wiederholten diagnostischen Untersuchungen kostet meist nur viel Geld, bringt aber bezüglich der Therapie meist wenig Erkenntnisse.
Es ist wichtig den Stoffwechsel mit Blutzuckerregulation, Blutfetten und der Leberfunktion im Blick zu behalten. Gerade Leberstörungen verursachen Erschöpfung und Müdigkeit. Wie mein Kollege schon erwähnte, sind Vitamin D, Vitamin B12 und Eisen im Blutbild zu untersuchen. Zudem hat der Schlaf hat eine prominente Rolle. Möglichkeiten den Schlaf zu verbessern, reichen von stabilerem Biorhythmus, Intervallfasten, Abdunkelung des Schlafzimmers, Weglassen von alkoholischen Getränken am Abend bis hin zur Mind-Body-Medizin und strukturierter Stressreduktion.
Bei der Sport- und Bewegungstherapie kann es hilfreich sein, zuvor eine Leistungsdiagnostik, z.B. mit der Lactat-Ergometrie, durchzuführen. Denn immer wieder ist es ein Problem, dass Betroffene mit Erschöpfung Sport versuchen, dann aber feststellen, dass sich bei einer leichten Überdosis bzw. Überanstrengung negative Effekte einstellen. Die Trainingsintensität kann man präziser mit der Leistungsdiagnostik steuern.
Wesentlich ist zudem eine ganzheitliche Analyse des Lebensstils, der biografischen Situation, woraus dann Lösungen im individuellen Gespräch herausgearbeitet werden. Das können einfache Dinge sein wie Schlafhygiene, die Integration von kurzen Entspannungsübungen in den Alltag, To-Do-Listen reduzieren. Auch bei der Ernährungstherapie ist individuell vorzugehen. Für den Einen kann eine vollwertige, rohkostreiche Ernährung kraft- und energiespendend sein. Menschen mit Darmentzündungen oder Darmstörungen sind hingegen nicht in der Lage aus einer vollwertigen Ernährung Stoffwechselprodukte wie kurzkettige Fettsäuren herzustellen, die Energie liefern, sondern es entstehen dann vielmehr Entzündungsreize, die wiederum die Erschöpfung verstärken. Eine individuelle Ernährungstherapie ist also prioritär.
Warum greift eine rein psychologische Betrachtung des Problems zu kurz? Wie wirkt z. B. auch Fasten auf die Psyche?
DR. MED. RAINER MATEJKA:
Häufig werden bei Krankheiten psychosomatische Faktoren als Ursachen oder zumindest Mitursachen gesehen. Auch die umgekehrte Kausalität kann jedoch eine Rolle spielen. Der überlastete Stoffwechsel kann die Psyche belasten. Nicht umsonst heißt es beispielsweise „der Schmerz der Leber ist die Müdigkeit“.
Dann kann beispielsweise das Fasten mit anschließender Ernährungsumstellung hin zu einer gemüselastigen Vollwertkost nachhaltig entlastend wirken und somit auch positive Effekte auf die Psyche ausüben.
Die Psychiater Stefan Brunnhuber und Oliver Somburg beschreiben das Fasten unter anderem als psychovegetativ stabilisierend, schmerzlindernd, angstlösend, tendenziell auch antidepressiv.
PROF. DR. ANDREAS MICHALSEN:
Erschöpfungssyndrome sind exemplarisch für die nicht zu trennende Verbindung zwischen Körper, Geist und Seele.
So können Darmbeschwerden und Darmbelastungen, Stoffwechsel-Dysbalancen oder Lebererkrankungen wesentlich die Psyche und die Vitalität beeinträchtigen. Auf der einen Seite kann eine gesunde Ernährung, Fasten, ein mikrobieller Aufbau des Darmes oder auch eine Leberkur die Vitalität und das psychische Befinden verbessern.
Auf der anderen Seite ist für mich auch die seelische und psychische Wirkung des Fastens von wesentlicher Bedeutung. Zunächst erleben wir ein Defizit, im weiteren Verlauf aber führt das Fasten dann zur Stärkung des körperlichen Befindens und einer Bereicherung des kreativen und sinnlichen Wahrnehmens.
Hierdurch machen wir die also im heutigen Alltag ungewöhnliche Erfahrung, dass sich durch Verzicht, nicht durch Konsum, die eigene Situation verbessert.
Welche Möglichkeiten bietet da die integrative Medizin?
DR. MED. RAINER MATEJKA:
Die hippokratische Medizin verfolgte schon vor über 2000 Jahren in vielen Fällen die Strategie der „Eliminatio“, also des Weglassens nicht benötigter Dinge und gleichzeitig die „Substitutio“, also die Zufuhr fehlender Dinge. Genau das kann die integrative Medizin auch heute noch sehr gut leisten.
Dies würde beispielsweise bedeuten, bei Überlastung des Stoffwechsels - worauf allein schon eine Fettleber hinweisen würde - Gegenmaßnahmen durch Ernährungsumstellung und/ oder Fasten einzuleiten. Und durch mehr Bewegung weitere komplexe Effekte zu unterstützen wie Anregung einer Blutgefäßneubildung, Stärkung des Immunsystems und antidiabetische Wirkungen. Bei mangelhafter Eisen- oder Vitamin B12-Versorgung käme die Substitution zum Tragen. In diesem Sinne hat auch die gute alte Aufbauspritze (meist eine Vitamin B-Kombination mit Folsäure) durchaus noch ihre Berechtigung.
Kurzum, die integrative Medizin, die ja sehr stark Lebensstil-Änderungen und Lebensstil-Optimierungen propagiert, hält den Schlüssel in der Hand, zahlreiche moderne Zivilisationsstörungen ursächlich zu behandeln, zumindest aber zu verbessern. So etwas steht keineswegs im Widerspruch zu den Leitlinien der modernen klinischen Medizin.
PROF. DR. ANDREAS MICHALSEN:
Integrative Medizin bietet grundsätzlich eine multidisziplinäre und vielschichtige Herangehensweise bei chronischen Erkrankungen und auch Erschöpfungssyndromen. Hierbei wird auf unsere unterschiedlichen biologischen Systeme unterstützend oder stimulierend eingewirkt. Das bedeutet konkret eine geeignete Ernährungstherapie oder das medizinische Fasten. Die weiteren Faktoren sind Bewegung, Sport und Physiotherapie, aber auch Ruhe und Regeneration. Die Thermotherapie arbeitet mit heißen/warmen und kalten Reizen, wie Güssen, Sauna, Kältekammer. Im Bereich der Mind-Body-Medizin werden Tiefenentspannungsverfahren mit Bewegungsformen verbunden, wie z. B. beim Yoga oder Tai Chi, Qigong oder Feldenkrais oder anderen Methoden. Ist der Mensch hingegen bereits in einem sehr defizitären Zustand, wo man für Stimulation durch Bewegung, Kälte- oder Wärmereize keine gute Ausgangslage vorfindet, kann es hilfreich sein, zuerst einen Vitalstoffmangel auszugleichen, auf eine unterstützende, wärmende, entlastende Ernährung zu setzen sowie Heilpflanzen und Mikronährstoffe zu geben.
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Was kann ich als belasteter Mensch selbst an Lebensstil-Änderung vornehmen? Inwiefern muss da in der heutigen Medizin ein Perspektivenwechsel einsetzen?
DR. MED. RAINER MATEJKA:
Man muss sich nur an die vier Grundprinzipien der WHO halten: Nicht rauchen, normales Körpergewicht halten, regelmäßige tägliche körperliche Bewegung – z. B. ein zügiger 30 min. Spaziergang pro Tag - und kein regelmäßiger Verzehr von rotem Fleisch und Wurstwaren. Dann hat man schon eine ganze Menge gemacht und kann zahlreiche Beschwerdebilder lindern, bzw. von vorneherein verhindern. Wo, wie oben erwähnt, Defizite bestehen, kann gezielt substituiert werden.
Lebensstiländerung ist der Schlüssel, um die Gesundheitswesen der industrialisierten Länder auch in Zukunft noch bezahlbar zu halten. Denn hier kämpfen alle entsprechenden Länder mit massiven Kostensteigerungen. Beispielsweise in Deutschland versucht man das durch immer höhere Krankenversicherungsbeiträge und immer höhere Steuerzuschüsse bei gleichzeitig oft reduzierten Leistungen aufzufangen. Ein Vorgehen, das wenig zukunftstauglich erscheint. Wenn es gelänge, die Bevölkerung in größerem Umfang einzubinden und zu aktiver Lebensstiländerung zu motivieren, könnten diese Probleme nachhaltig entschärft werden.
PROF. DR. ANDREAS MICHALSEN:
In der Medizin ist man sich inzwischen weitgehend einig, dass der individuelle Lebensstil, die persönliche Verhaltungsänderung der entscheidende Aspekt für die Prävention und die Behandlung der meisten chronischen Erkrankungen darstellt. Entsprechend finden sich Lebensstilveränderungen auch bei den meisten Leitlinien als erste Empfehlung.
Unser Gesundheitssystem krankt aber daran, dass bei der konkreten Umsetzung sehr wenig Angebote gemacht werden. Es braucht ein strukturiertes Therapiekonzept. Oftmals braucht es auch ein verzahntes, multidisziplinäres Therapiemanagement, um einen Menschen, der in einem Teufelskreis aus Erkrankung, Schmerzen und Erschöpfung festsitzt, wieder in einen gesunden Lebensstil zu bringen.
Die Naturheilkunde hat hier ein großes Spektrum an Möglichkeiten, differenziert und individualisiert auf den Menschen und seine Situation einzugehen und die bestehenden Optionen zu nutzen. Tatsächlich kann man dann in vielfältigster Weise seine eigene Gesundheit unterstützen und seine Selbstheilungskräfte maximieren. Das reicht von Kneipp-Güssen, Saunagängen, Waldspaziergängen, Muskeltraining, einer pflanzenbasierten Ernährung bis hin zum klugen Einsatz von Heilpflanzentherapie in der Selbstmedikation oder beispielsweise Anwendung von naturheilkundlichen Hausmitteln bei leichten Beschwerden.
Wissenschaftler gehen heute davon aus, dass etwa 70 – 80% der chronischen Erkrankungen lebensstilbedingt sind. Die Naturheilkunde geht einen Schritt weiter. Sie hat das erklärte Ziel, bei Bestehen solcher chronischen Erkrankungen durch einen geeigneten Lebensstil Beschwerden wirksam zu lindern oder bei manchen Erkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck oder Schmerzsyndrom diese sogar natürlich zu heilen.
DR. MED. RAINER MATEJKA
Fastenarzt, Facharzt für Allgemeinmedizin, Naturheilverfahren und biologische Medizin. Von 2016 bis 2024 war er Chefarzt der Malteser Klinik von Weckbecker in Bad Brückenau.
Seine medizinischen Erfahrungen sammelte er über viele Jahre durch seine ärztliche Tätigkeit in der Akutmedizin, ganzheitlich orientierten Reha-Kliniken und in seiner eigenen Tagesklinik in Kassel-Wilhelmshöhe. Matejka ist Ehrenpräsident des Deutschen Naturheilbundes (DNB), Vorsitzender der Arztegesellschaft Heilfasten und Ernährung (ÄGHE) sowie Chefredakteur der Zeitschrift „Naturarzt". Er hat mehrere medizinische Fachbücher u.a. über sog. Ausleitende Therapieverfahren geschrieben und ist durch seine vielfältige Vortragstätigkeit im In- und Ausland bekannt.
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PROF. DR. ANDREAS MICHALSEN
Professor für Klinische Naturheilkunde der Charité Berlin und Chefarzt der Abteilung Innere Medizin und Naturheilkunde am Immanuel Krankenhaus Berlin-Wannsee.
Prof. Dr. med. Andreas Michalsen, geboren 1961 in Bad Waldsee als Sohn eines Kneipp-Arztes, ist Internist. Ernährungsmediziner und Fastenarzt. Als Professor für Klinische Naturheilkunde der Charité Berlin und Chefarzt der Abteilung Innere Medizin und Naturheilkunde am Immanuel Krankenhaus Berlin forscht, lehrt und behandelt er mit den Schwerpunkten der Ernährungsmedizin, des Heilfastens, des Intervallfastens und der Mind-Body-Medizin. Michalsen publiziert und referiert international im Bereich der Naturheilkunde und Komplementärmedizin.
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Darüber hinaus ist er Mitherausgeber wichtiger Fachzeitschriften für Naturheilkunde und im NDR gemeinsam mit seinem Therapeutenteam als Natur-Docs im TV zu sehen.
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